Herz und Zunge

Das Motiv von Herz und Zunge taucht im Liber Al drei mal auf, immer in den Worten der Nuit:
1.06: "(...) Hadit, my secret centre, my heart & my tongue!"
1.32: "(...) I swear it (...); by my heart and tongue;"
1.53: "(…) the little world my sister, my heart & my tongue, (…)"

Der Ausspruch von 1.06, "(…) my secret centre, my heart & my tongue!" stellt im Grunde eine Verdreifachung der Idee des Zentrums dar. Im Denken der Ägypter war das Zentrum das jeweils Wichtigste. Im Körper war das Herz das Zentrum, im Mund war die Zunge das Zentrum. Herz und Sprache waren allen Geschöpfen der Welt gegeben. Es gab in diesen Zusammenhang keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Tieren und Menschen.

Das Herz war für die Ägypter nicht nur der Sammelpunkt aller Empfindungen, sondern auch der Ort der Entscheidungen. Unser Begriff von "beherzt" für "entschlossen" mag mit dieser Idee korrespondieren. Auch den Instinkt möchte man da vermuten. Jedoch, es mag uns heutigen Rationalisten befremdlich erscheinen, das Herz war für die Ägypter tatsächlich der Sitz des Verstandes. Wahrscheinlich wurde der Verstand der Ägypter noch mehr von den Göttern geleitet, als heutige vermeintliche Inhaber des freien Willens, denn "das Herz ist ein Steuerruder. Angetrieben durch die göttliche Kraft, kann es seinen Herrn zum kentern bringen. Es kann die Flamme so empfinden, als sei sie Erfrischung." (nach C. Lalouette, "Textes sacres", S. 130) Bei der Hieroglyphe handelt es sich um eine Art schematischer Darstellung der Funktionsweise eines Schafherzens. "Hals" und "Henkel" entsprechen tatsächlich den Anschlussstellen von Venen und Arterien..

In der Spätzeit, als die Hieroglyphen nicht mehr Teil der alltäglichen Schriftkultur waren, sondern "Heilige Zeichen", mittels derer eine theologische Deutung der Zusammensetzung der Worte in den Vordergrund rückte, wurde die Herz-Hieroglyphe gelegentlich durch den Ibis ersetzt, der als Ideogramm für Thoth den Herrn über Herz und Verstand anzeigte.

In der Zunge manifestiert sich die reine Macht des Wortes, mit der die Welt erschaffen wurde, "denn jedes göttliche Wort erwacht zum Leben gemäß dem, was das Herz ersonnen und die Zunge geboten hat". "Die Zunge ist das Schwert des Menschen: Die Rede ist stärker als jede Waffe" (König Cheti, nach M. C. Betro, "Heilige Zeichen"). Die Hieroglyphe der Zunge war im neuen Reich die Schreibweise des Titels "Oberaufseher, Vorsteher", welches sich ursprünglich von der Bedeutung "einer, in dem die Entscheidung ist" ableitet.